ARBEITSPROBE: tip Berlin 21/86: Die Gebrüder Rocchigiani wollen sich ganz nach oben boxen. Dabei greift Ralf, der große Bruder, am 3. Oktober nach der Europameisterschaftskrone im Halbschwergewicht. Die zahlreichen Sonnentage des vergangenen Sommers verbrachten die beiden Hoffnungsträger im deutschen Profiboxsport, Ralf und Graciano Rocchigiani damit, im Weddinger Freibad "Seestern" Bratwürste und Softeis zu verkaufen. Fürwahr kein befriedigender Zustand für die beiden ehrgeizigen Berliner Faustkämpfer, die ihren Nachnamen vom sardischen Vater erbten. Trösten konnte sie allein der Gedanke, daß es der gesamten inländischen Konkurrenz nicht besser erging. Im Profiboxgeschäft herrschte die große Flaute und der Sportinformationsdienst verkündete "Kurzarbeit für deutsche Preisboxer". Doch mit der Ruhepause ist es vorerst vorbei. Am 3. Oktober, einem Freitag, stehen die Roccis in der Berliner Eissporthalle vor großen Aufgaben. Ralf (23) fordert den Europameister im Halbschwergewicht, den Holländer Alex Blanchard, heraus, sein ein Jahr jüngerer Bruder Graciano wird gegen den amtierenden Deutschen Meister im Mittelgewicht, Manfred Jassmann, im Ring stehen. Ralf Rocchigiani, der von seinen zwanzig Profikämpfen bisher sechzehn gewonnen, einen verloren und drei unentschieden gestaltet hat, wird es mit einem fast zwei Meter großen, versierten Techniker zu tun bekommen. Seine Taktik in dem Kampf, der über zwölf Runden geht, beschreibt er so: "Ich muß so nah wie möglich dranbleiben, um seine Vorteile in der Reichweite auszugleichen und werde ihn ständig beschäftigen müssen." Für den Europameister geht es um eine Kampfbörse von 33 000 Mark zuzüglich der Einnahmen aus den Fernsehrechten, für den Herausforderer gibt es erheblich weniger, aber immerhin auch eine fünfstellige Summe und die Chance, den Titelträger zu entthronen. Gegen den Korbacher Manfred Jassmann, dem Gegner seines jüngeren Bruders, erlitt Ralf die einzige Niederlage seiner Profilaufbahn. Sein Kommentar nach dem Kampf: "Es war schön, als es nach zehn Runden vorbei war!" Graciano ist Linkshänder und folglich Rechtausleger. Das bedeutet, daß er die rechte Hand vorne hat, seinen Gegner damit attackiert und die schlagstarke Linke hinten hält, um den Opponenten möglichst kampfentscheidend zu treffen. Sein riesiges Talent beweist seine Bilanz: von seinen siebzehn Kämpfen als Profi entschied er alle für sich. In der Vorbereitungsphase absolvierten die beiden in den frühen Morgenstunden ihr Lauftraining, tagsüber dann in Intervallen Gymnastik und Schnellkrafttraining mit Hanteln. Ende August flogen sie mit ihrem Trainer Wolfgang Wilcke nach London, um gegen englische Sparringspartner ihre Technik zu verbessern. "In Berlin sind die Partner einfach zu teuer, auch wenn es Amateure sind", bedauert Ralf. Angefangen hatten die Roccis als zehn- bzw. elfjährige Steppkes. Damals schauten sie beim Training der Boxamateure in der Schöneberger Sporthalle zu und fragten spontan "ob wir mitmachen dürfen' Von da an gingen sie, gegen den Willen der Eltern, regelmäßig boxen und trafen auf gute Trainer und ideale Rahmenbedingungen. Infolgedessen machten sie als Amateurboxer eine steile Karriere und errangen für die Neuköllner Sportfreunde zahlreiche Meistertitel. Sie gelten als hervorragende Techniker mit schnellen Reflexen. Obwohl ihre Nasenbeine nicht mehr die Form haben, mit der sie auf die Welt kamen, wissen sie genau, daß es vor allen Dingen darauf ankommt, Kopftreffer zu vermeiden. Denn jeder Schlag gegen den Kopf verkürzt die Laufbahn eines Boxers. Auf die Dauer waren ihnen Ruhm, Ehre und ein geringes Startgeld nicht genug. Sie wollten das große Geld. Ein Sportjournalist brachte sie mit dem Trainer Wolfgang Wilcke zusammen, der gute Kontakte zu dem Boxmanager Wilfried Sauerland hat. Der damals 18jährige arbeitslose Fensterputzer Graciano Rocchigiani wechselte für ein Monatsgehalt von 3 000 Mark als erster zu den Profis und unterschrieb einen Vertrag mit Sauerland. Sein Bruder, als gelernter Verkäufer ebenfalls arbeitslos und zudem verschuldet, folgte ihm ein Jahr später. Vorsichtig gemanagt, bestritten die beiden ihre ersten Kämpfe. Dann kam die Flaute, denn mangels zugkräftiger Fighter schwand das Publikumsinteresse. Nachdem "Golden Boy" Rene Weller seinen Leistungszenit überschritten hat, fehlt dem Boxgeschäft eine charismatische Figur. Die Lücke, die er hinterläßt, könnten die Roccis füllen. Es gilt also, das angeschlagene Image des Profiboxens aufzupolieren. Doch das Brüderpaar hat große Schwierigkeiten, sich in der Öffentlichkeit zu verkaufen. Von Natur aus nicht gerade mit dem Showtalent eines Boris Becker gesegnet, verdarben sie sich auch noch die Sympathien der Berliner Presse. Nach Ralfs Niederlage gegen Manfred Jassmann begehrten einige übereifrige Sportjournalisten Einlaß in seine Kabine. Bruder Graciano hielt sie jedoch mit wüsten Beschimpfungen und Drohgebärden davon ab, mit Jalsch verstandener Bruderliebe", wie Trainer Wilcke meint. Doch die Roccis wissen, der Gewinn der Europa- bzw. Deutschen Meisterschaft würde diesen Eindruck verwischen, nichts löscht negative Erinnerungen schneller als Erfolg. Verlieren sie jedoch, sinkt ihr Stern samt Marktwert rapide ab. Vor dem großen Kampf träumen sie allerdings weiter den Traum vom großen Geld durch Kämpfe in den USA. Ralf hat sich vorgenommen, nach Ablauf seiner Profikarriere, "nie mehr im Leben selbst arbeiten zu müssen" während Graciano sich mit seinen Fäusten eine eigene Kneipe oder Disco erkämpfen will. |
Henning Richter |