ARBEITSPROBE: Corvus Corax SEIKILOS Spielleute müssen zusammenhalten. Als Brüder im Geist sollen sie voneinander lernen und sich anregen, das ist die feste Überzeugung von Corvus Corax. So ließ sich die Berliner "Mittelalter-Big-Band" für ihr neues Album "Seikilos" gleich von mehreren wandernden Sängern inspirieren. Da wäre zum einen Seikilos II, der im 15. Jahrhundert als fahrender Spielmann über Land zog. Seinen Namen übernahm der findige Troubadour vom gleichnamigen Griechen der Antike, der auf seiner Grabessäule einen Text samt Noten einmeißeln ließ. Das "Lied des Seikilos" ist ein lustvoller Aufruf, das kurze Leben in vollen Zügen zu genießen, Grund genug für den Spielmann des ausgehenden Mittelalters sich nach dem griechischen Lebemann zu benennen. Grund genug auch für seine heutigen Nachfahren Corvus Corax, das Älteste überlieferte Lied Europas auf ihre farbenfrohe Art zu intonieren. Auch Francois Villon zählt zu den Vorbildern der Mannen vom Prenzlauer Berg, seine "Ballade de Mercy" gehört zu den Höhepunkten der neuen Scheibe. "Das ist unser modernstes Stück, es stammt aus dem 15.Jahrhundert. Die Melodie, die erst 150 Jahre später aufgeschrieben wurde, ist wahrscheinlich auch von Villon komponiert. Der Text handelt davon, dass Villon alle um Verzeihung bittet, mit denen er Probleme hatte, ausgenommen die Polizisten", lacht Sänger/Dudelsackbläser Castus Rabensang, der die Ballade kunstvoll in altem Französisch mit Pariser Zungenschlag vorträgt. Daneben enthält das zwölfte Album der weit gereisten Hauptstädter historische Tänze und Lieder aus 2500 Jahren Musikgeschichte. "Cheiron", beispielsweise, verarbeitet einen Text des lateinischen Schriftstellers Longinus, in dem er das Fabelwesen Cheiron beschreibt, ein weiser Zentaur, halb Mensch, halb Pferd. Bei "Aia" handelt es sich um den Spruch eines Spielmanns aus dem 9. Jahrhundert, der auf die Konventionen pfeift und sich lieber rumtreibt. Mit ungebremstem Forscherdrang steigen Mitglieder von Corvus Corax in die Archive hinab, um mit historischen Texten und uralten Notationen wieder aufzutauchen. Das älteste Stück auf "Seikilos" ist der chinesische Kaisermarsch "Chou Chou Sheng", er stammt aus der Chou-Dynastie und entstand vor circa 3000 Jahren. "Zu dieser Melodie lief der Kaiser in den Tempel ein", berichtet Rabensang. "Bei uns ist es eher ein Techno-Tempel, die Melodie hat einen 2/4 Takt und wirkt sehr modern. Hier haben wir übrigens ein original chinesisches Saiteninstrument eingesetzt, das Kin." Insgesamt kamen für "Seikilos" über fünfzig verschiedene Instrumente zum Einsatz. Von großem Vorteil ist dabei, dass Corvus Corax mit Venustus über einen band-eigenen Instrumentenbauer verfügt, der seine Grundkenntnisse an der London School of Furniture erwarb. Insgesamt hat das mittelalterliche Oktett seine melodischen und rhythmischen Stärken weiter verfeinert. Nach wie vor steuert es einen Kurs zwischen mächtigem Pathos und spielerischer Raffinesse, den Rabensang so beschreibt: "Auf der einen Seite haben wir Pauken, Trompeten und Dudelsäcke, auf der anderen Seite lassen die Frauen zu den zarten Melodien die Hüften kreisen." Corvus Corax zählt insgesamt fünf Dudelsackbläser, die bei Bedarf auch allemöglichen anderen Instrumente ergreifen wie etwa Schalmei, Drehleier, Trumscheid und vieles mehr. Neben Rabensang und Venustus sind das Meister Selbfried, Teufel und Neuzugang Ador vom Venushügel, der den in aller Freundschaft ausgestiegenen Brandan ersetzt. An den vielfältigen Rhythmusinstrumenten stehen Harmann, der Drescher sowie seine Kollegen Hatz und der Kalauer. Die Anfänge der geschichtsbewussten Gruppe reichen zurück ins Jahr 1989, als Rabensang und Venustus sich zur Mittelalterband Corvus Corax, zu deutsch Kolkrabe, zusammenschlossen. Den Namen wählten sie, weil der größte europäische Singvogel eine mystische Figur ist, die in zahllosen europäischen Märchen und Fabeln erscheint. Zusammen mit Meister Selbfried und befreundeten Musikern spielten sie im gleichen Jahr ihr Debütalbum "Ante Casu Peccati" ein. Im Laufe der folgenden Alben (siehe Discografie) fand die, auch personell stetig wachsende Band ihren satten Sound, mit dem sie Zuhörer auf Festivals und Konzerten in aller Welt ins Staunen versetzt. Immer wieder experimentierten die modernen Spielmänner mit frischen Ideen, etwa mit ihrer Single "Tanzwut". Der Crossover von Rock, Elektro und Mittelaltermusik gefiel den innovativen Berlinern so gut, dass sie die gleichnamige Band Tanzwut ins Leben riefen, die seither moderne und alte Elemente so kraftvoll wie phonstark verbindet. An dieser Stelle sei verraten, dass am 03.03.2003 das dritte Album von Tanzwut erscheinen wird. Inwischen sind Corvus Corax zum Prototyp einer Mittelalterband geworden, so wie sie historische Musik vorgespielt haben, lautstark, bunt und lebenslustig, spielen inzwischen zahllose Formationen in ganz Europa die alten Lieder und Tänze nach. Und das ist ganz in ihrem Sinne, wie gesagt, Spielleute müssen zusammenhalten. Lied des Seikilos Solange du lebst, zeige dich |
Henning Richter |